Bürgerschaftliches Engagement 2010 – Active Citizenship

Ich bin da eher zufällig hineingeraten: Ein Quartiersmanager hatte mit mir Kontakt aufgenommen wegen einem Projekt zu Internet und lokaler Ökonomie. Ich bekam das Projekt und dann habe ich das Umfeld meines Auftrages erkundet. Ich habe mit Selbständigen Kontakt Wandbild gegenüber dem Büro für Quartiersmanagementaufgenommen und mit lokalen EDV-/ Internetanbietern, mit dem lokalen Bürgerverein, mit dem Büro für Quartiersmanagement und bei der nächsten Wahl für den Quartiersrat habe ich selbst kandidiert. Das fing Anfang 2006 an. Nach zwei Jahren als Quartiersrätin habe ich dieses Gremium verlassen. Ich habe dann die Bürgerplattform Wedding/ Moabit mitbegründet und war für diese Methode der Bürgerbeteiligung auch zur Weiterbildung in Chicago (dank einem Stipendium der Checkpoint Charlie Stiftung). Der Bürgerverein hat mich vor 2,5 Jahren in den Vorstand gewählt und ich versuche auf meine Art und mit meinen Kenntnissen, zur Entwicklung dieses Vereins und des Stadtteils beizutragen. Ich habe eine gründliche Ader: Was ich in die Hand nehme, mache ich ernsthaft.

Als Soziologin gucke ich immer mal wieder über den Tellerrand und versuche zu orten, was wir hier überhaupt tun, welcher Art „System“ das ist, an dem wir mitwirken. Ich versuche auch, mit anderen Mitstreitern gemeinsame Ziele zu definieren. Aber das geht nicht so recht. Vielleicht setze ich Methoden ein, die aus einer anderen Branche/ anderen Welt kommen? Ich lerne immer mehr: Bürgerschaftliches Engagement ist speziell.

Um Zielgruppen gibt es zuweilen Konkurrenz
Es ist nicht meine Erwerbstätigkeit und es ist nicht mein Privatleben. Ich tue mich auch schwer mit der Aussage, dass ich ehrenamtlich tätig bin, denn ich mache etwas Selbstbestimmtes, nicht etwa eine Freiwilligentätigkeit für einen Wohlfahrtsverband oder dergleichen. Am Ende treffen in einem Stadtteil mit „besonderem Entwicklungsbedarf“ Personen mit verschiedenen Rollen und Funktionen aufeinander: Es gibt Leute, die sind angestellt oder in anderer Weise beauftragt, Bürgerbeteiligung zu organisieren. Daneben gibt es Projektträger, die aus der einen oder anderen Art Förderprogramm Gelder bekommen, um bestimmte Zielgruppen im Stadtteil zu unterstützen. Ferner gibt es Arbeitslose und Existenzgründer, die nach Gelegenheiten suchen, beispielsweise einen 1-Euro-Job oder einen freiberuflichen Auftrag für Stadtteil- oder Kulturarbeit zu bekommen. Weitere Akteure sind einfach Nutznießer sozial-kultureller oder beratender Angebote und erfüllen als solche nicht selten überhaupt die Ziele der Stadtteilarbeit. Um solche Zielgruppen gibt es zuweilen Konkurrenz. Manche Kinder sind in der Theater-AG und in der Tanzgruppe und in der Hausaufgabenhilfe, andere müssen mangels Sozialverträglichkeit aus allen Angeboten ausgeschlossen werden.

Man trifft sehr verschiedene Leute in unterschiedlichen Lebenssituationen, nicht wenige davon sind Idealisten zwischen Genie und Wahnsinn.

Ich bekomme mittlerweile eine Unmenge Einladungen zu unterschiedlichsten Kulturveranstaltungen. Dabei fällt mir auf, dass es neuerdings auch Veranstaltungen in anderen Stadtteilen sind und dass manche Veranstaltungen Eintritt kosten. Das bedeutet, dass lokale Künstler jetzt auch Anerkennung in anderen Stadtteilen finden (vielleicht sogar mehr als hier) und dass es Kultureinrichtungen gibt, die sich vorstellen können, dass zahlungskräftiges Publikum in den Wedding kommt oder sogar schon im Wedding ist. Beides ist ein gutes Zeichen, denke ich.

Ich bekomme ebenso zahlreiche Einladungen zur Teilnahme an Fachtagungen, Vortragsveranstaltungen und Werkstattgesprächen verschiedener Art im Themenbereich Stadtentwicklung und Kulturwirtschaft. Da sprechen in der Regel Personen, die durch ihre Erfahrung bzw. Position als Angestellte Expertenstatus bekommen haben. Diese angestellten oder freiberuflichen „Moderatoren“ von Bürgerbeteiligung werden von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten als kompetente Ansprechpartner für das Feld wahrgenommen. Sie steuern am Ende die öffentliche Meinung und die öffentliche Anerkennung, welche Akteure und Projektträger da draußen vor Ort gute Arbeit leisten.

Klassisches Ehrenamt setzt sich für andere ein – für Bedürftige
Professor Dr. Wolfgang Hinte unterscheidet in seinem Text Wer braucht eigentlich die Bürgergesellschaft? Und wen braucht sie? sehr passend, dass die „klassischen“ Ehrenamtlichen sich für Andere – für Bedürftige – einsetzen, während Akteure von Stadtteilarbeit beispielsweise ihre Eigeninteressen vertreten. Sollte das weniger förderungswürdig sein? Möglicherweise ist die klassische Sozialarbeit, die „Bedürftigen“ „hilft“ sowieso ein Auslaufmodell? Hinte beschreibt anschaulich, dass die Bürgergesellschaft eine Angelegenheit des (gebildeten) Bürgertums ist. Vor Ort im Wedding kann man beobachten, dass die allerorten angestrebte Einbeziehung, Beteiligung und Aktivierung (migrantischer) Minderheiten nicht nur an Sprachbarrieren sondern gleichermaßen an Bildungsbarrieren, Politikverständnis und Selbstbewusstsein scheitert.

Nur überzeugte Arbeitslose können „professionell“ einsteigen
Bürgerschaftliches Engagement ist zeitaufwendig. Wenn man einmal involviert ist, sollte man sich vielleicht auch mit Akteuren der Lokalen Agenda 21, mit der Anti-AKW-Szene und dem sozialkulturellen Zentrum um die Ecke abstimmen? Bei genauer Betrachtung gibt es zahllose Vereine und Initiativen, die alle ihren Beitrag zu einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft leisten oder anstreben – mit ihren Mitteln. Nur überzeuge Arbeitslose können hier wirklich „professionell“ einsteigen ;-) Manche Akteure sind schnell enttäuscht wenn sie feststellen, wie aufwendig die Auseinandersetzung ist, denn das Gemeinwohl ist die Summe seiner Teile und die Teile bzw. Teilnehmer/ Akteure sind keineswegs immer alle derselben Meinung. Niemand möchte in der Einflugschneise eines Flughafen wohnen aber alle wollen einen kurzen/ schnellen Weg zum nächsten Flughafen? Es möchte auch niemand eine Drogenberatungsstelle als Nachbarn. Die Auseinandersetzungen sind lebhaft und interessant.

Platane vor den UferstudiosNeulich wurde unmittelbar bei mir in der Straße zu einem kleinen Protest aufgerufen – die Wasserwerke wollten bestimmte Bäume fällen anstatt die Versorgungsleitungen auf dem benachbarten Privatgrundstück zu verlegen. Ein Nachbar hat mich später angesprochen: Gerade ich hätte da doch hingehen müssen. Wieso? Ich gehe zu so vielen anderen Treffen unterschiedlichster Art, gerade wenn es hier vor der Tür ist, können sich doch auch die Nachbarn mal auf den Weg machen? Ich bin erwerbstätig, ich habe überhaupt nicht die Zeit, überall mitzumischen und ich bin auch nicht interessiert an der Rolle der Idealistin, die sich für andere aufopfert und deshalb auf ihr Privatleben verzichtet.

Es gibt wissenschaftliche Literatur aber keinen Handlungsleitfaden für Akteure
Weil ich immer wieder das Gefühl habe, dass alle Akteure (Aktivisten, Moderatoren, Verwaltung, Politik) hier Bürgerbeteiligung üben oder mancherlei Rollen- und Verhaltensunsicherheiten allgegenwärtig sind – ebenso Feindbilder, Anfeindungen, Ausbrüche unterschiedlicher Art – habe ich etwas recherchiert und nach Modellen und Vorbildern gesucht.

Es gibt eine Menge wissenschaftlicher Literatur aber keinerlei Handlungsleitfäden für Akteure. Ich dachte, dass wir bestimmte Formen der Demokatie vielleicht aus dem englischen Sprachraum lernen und habe dann auch englisch nach „active citizenship“ recherchiert. Ich fand vor allem Material für Lehrer, wie man aktive Bürgerschaft bei jungen Menschen fördern kann, z. B. The Making of Citizens in Europe: New Perspectives on Citizenship Education. Es geht unter anderem darum, dass junge Menschen, sich als Bürger eines demokratischen Europa wahrnehmen.
Auch bei der englischen Recherche wird mir bestätigt, dass die Bürgergesellschaft europaweit Trend ist Emerging Notions of Active Citizenship in Europe ist aus 2001 und dokumentiert die soziologische Wahrnehmung zum Thema. Aktive Bürgerschaft ist offenbar eine Art Sammelbegriff für unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Aktivität. Unter Confusing Conversations kann man sich jeweils auf Deutsch und Englisch die Definition der Grundbegriffe politischer Bildung ansehen, für eine bessere Verständigung im europäischen Kontext wegen der jeweils unterschiedlichen nationalen Hintergründe.

Bürgerschaftliches Engagement in dieser Form ist offenbar Neuland
Nicht dass dies die einzigen Fundstücke der Recherche gewesen wären, aber es gibt nicht wirklich viele interessante Quellen und damit wird deutlich, dass Bürgerbeteiligung und bürgerschaftliches Engagement tatsächlich relatives Neuland sind.

Die zuvor erwähnte Broschüre für Lehrer wird von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben. Bei der Landeszentrale für politische Bildung kann man sich auch beraten lassen, wie man Fördergelder für Veranstaltungen bekommt – das steht auf der Website. Ich habe mal angerufen, ich dachte an den Einsatz von kollegialer Beratung für Akteure der Bürgerbeteiligung. Nein, ich bekam keinen Beratungstermin. Als die Dame erfahren hat, dass ich sowohl Mitglied des Vorstand der antragstellenden Einrichtung als auch die spätere Honorarkraft für das Projekt wäre, wurde sie sehr ablehnend. Unpassende Bereicherung oder so. Dass dieser Vorstand rein ehrenamtlich tätig ist, interessierte die Dame nicht. Das passiert überhaupt öfter Mal, dass Angestellte nicht einmal Verständnis äußern, wenn man davon spricht, dass die eigene Arbeit bezahlt werden muss, weil sie Lebensgrundlage ist. Ich könnte problemlos den Vorstand eines anderen Vereins bitten, einen von mir verfassten Antrag einzureichen, aber das ganze hier angebotene Fördervolumen ist so bescheiden und kompliziert, dass ich wenigstens freundlich aufgenommen werden möchte mit meinen Projektideen.

Nach einem erfolgreichen europäischen Workshop für den Erfahrungsaustausch Selbständiger (Entrepreneurs developing personal strategies in times of globalization, gefördert im Programm Grundtvig) habe ich Anfang diesen Jahres als Nachfolgeprojekt einen europäischen Workshop für Aufbau und Management von bürgerschaftlichen (und beruflichen) Netzwerken beantragt. Aktive Bürgerschaft gehörte ausdrücklich zu den als Beispiel genannten förderfähigen Themen. Das Projekt wurde unter anderem deshalb abgelehnt, weil Multiplikatoren als Zielgruppe in diesem Programm nicht förderfähig sind. Ist das nicht ein Widerspruch? Diejenigen, die bisher nicht aktiv sind, wird man schwer zur Teilnahme an einem entsprechenden Workshop gewinnen können. Wie hätte ein etablierter Träger von Sozialarbeit denselben Antrag geschrieben, eine Einrichtung, die nicht selber Akteur von Bürgerbeteiligung ist, sondern solche Projekte moderiert? Warum habe ich das Gefühl, dass das die Gutachter eher überzeugt hätte? Ist es nicht denkbar, dass aktive Bürger mindestens genauso qualifiziert sind (oder sogar weitergehend, nicht durch ihren Status sondern sowieso) wie die (möglicherweise zufällig durch normale Wechselfälle des Lebens) bezahlten Angestellten?

2011 wird Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit. Es wird in allen Programmen entsprechende Prioritäten geben, freiwilliges Engagement zu fördern, zu unterstützen und ggf. Preise und Auszeichnungen zu verleihen. Wer wird davon profitieren? Natürlich ist „freiwillige Tätigkeit“ nicht mehr dasselbe, wenn sie am Ende bezahlt wird. Aber warum sollten nicht auch Freiwillige die Gelegenheit zu bezahlter Arbeit bekommen? Vielleicht sollte man gerade das hier gezeigte Engagement auch beruflich nutzen, die Erfahrungen und die Kontakte auch professionalisieren? Bezahlte Projektentwickler bei namhaften Projektträgern verschiedener Art arbeiten ganz sicher schon an Konzepten, wie sie billige und kostenlose Arbeitskraft verschiedener Art für gesellschaftliche Zwecke erschließen könnten. Sehr innovativ und kreativ wird hier bestimmt wieder mit der Agentur für Arbeit zusammen gearbeitet. Die sogenannte Bürgerarbeit (sehr passend wie man die neuen Beschäftigungsmaßnehmen jetzt genannt hat) soll am Ende allen dienen: Der Gesellschaft, den Arbeitslosen und dem Beschäftigungsträger! Wir können sicher sein, dass am Ende bei der Projekt-Evaluation bezahlte (Bildungs-)Bürger unter sich bleiben.

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