Digitale Sozialisation

TastaturEin Kollege hat mich eingeladen, an einer Arbeitsgruppe „Digitale Sozialisation“ mitzuwirken. Der Begriff ist bisher wohl kaum definiert.

Mir fällt ja sooo viel dazu ein. Aber ich habe vielleicht eine spezielle Perspektive.
Ich gebe seit etwa 17 Jahren regelmäßig EDV-Unterricht für unterschiedliche Zielgruppen, in unterschiedlichen Formaten und zu unterschiedlichen Themen. Und ich habe auch in anderen Bereichen meines beruflichen und privaten Lebens einen wachen Blick dafür, wie ganz unterschiedliche Zeitgenossen mit unterschiedlichen EDV-Geräten umgehen.

Meine eigene digitale Sozialisation:
Ich habe während meinem Studium als Schreibkraft gejobbt, ein Berufsbild das es in dieser Form heute nur noch sehr vereinzelt gibt. Ich habe Briefe nach Phonodiktat getippt oder auch handschriftliche Briefe mit der Maschine abgeschrieben. Gelegentlich habe ich dabei auch Rechtschreibung und Grammatik überarbeitet. Ich habe die ganze Entwicklung von der alten Schreibmaschine mit oder ohne Korrekturtaste über elektrische Schreibmaschinen mit unterschiedlichem Speicher (anfangs nur zwei Zeilen, später auch mal drei Seiten) über einen „Textcomputer“ zum Personal-Computer mit unterschiedlichen Textverarbeitungs-Programmen beim Jobben für sehr unterschiedliche Unternehmen erlebt. Für meine Diplomarbeit (1984) mit einer elektrischen Schreibmaschine mit recht gutem Korrektursystem (Fehler neu ansteuern und mit Korrekturband neu tippen), wurden zahlreiche Absätze neu geschrieben, überklebt und die Seiten anschließend im Copyshop in ansprechende Form gebracht. Ich habe mich in allen Jobs in jedes Gerät schnell eingearbeitet. Die entscheidende Kompetenz war damals

10-Finger-Schreiben mit flotter Geschwindigkeit bei wenigen Tippfehlern und eben die Arbeit mit wechselnden Speichergeräten.

Seit 1998 habe ich einen PC im eigenen Haushalt und als Existenzgründerin wurde ich Mitglied bei www.akademie.de Das Unternehmen hatte damals Bundesmittel, um kleinen Betrieben und Existenzgründern zu geringen Lehrgangsgebühren Internetkenntnisse zu vermitteln. Das Angebot erfolgte wesentlich per eLearning und die Teilnehmer wurden schon damals über „Mailinglisten“ sehr erfolgreich untereinander vernetzt. Ich wurde weitergehend Mitglied anderer großer Mailinglisten (unabhängig von akademie.de) und kann heute rückblickend sagen, dass ich meine damalige Existenzgründung (2000) wesentlich mit Erfahrungsaustausch und Lernen unter den i-workern, webgrrls und der Newsgroup de.etc.beruf.selbstaendig vorangetrieben habe. Ich gründete auch eine zusätzliche Mailingliste für selbständige Frauen, erreichte im deutschen Internet eine gewisse Bekanntheit und wurde zuweilen zu Vorträgen eingeladen. Ich bewege mich heute alltäglich unter Internetprofis verschiedener Art, kann fachlich durchaus folgen, ich setze viele neue Techniken selbst aktiv und mit Umsicht ein.
Aber mein Wissensstand ist nicht selbstverständlich, das kann nicht sein.

Wenn ich so um mich schaue, stelle ich beispielsweise fest, dass für Bewerbungen für Beschäftigungen aller Art heute E-Mails erwartet werden. Muss tatsächlich jeder arbeitslose Automechaniker ein E-Mail-Konto haben? Vielleicht sollte er sowieso ein E-Mail-Konto haben, auch aus eher privaten Gründen, man kann ja so vieles damit machen. Reicht es, wenn ich mit so jemandem gemeinsam ein gmx-Konto einrichte und in diesem Zusammenhang versichere, gmx sei kostenlos, seriös und sicher? In der Regel schreibe ich so jemandem noch ein paar Übungsmails mit Bitte um ANTWORT und versuche auch auf andere Art, die aktive Nutzung des Kontos zu motivieren.
Heute erzählte mir ein arbeitsloser Handwerker beiläufig, dass er E-Mail grundsätzlich nicht benutzt und auch beim JobCenter durchgesetzt hat, dass er sich nur dann bewirbt, wenn Bewerbungen auf Papier akzeptiert werden. Nicht weil er E-Mail nicht kann, aber er lehnt die Möglichkeit der elektronischen Weiterverarbeitung seiner persönlichen Daten grundsätzlich ab. Niemand kann ihm versprechen, dass er umgehend Arbeit findet, wenn er E-Mail einsetzt, so ist der Arbeitsmarkt nicht bestellt. Ich finde diese Haltung nicht einmal grundsätzlich falsch, denn ich habe zu oft erlebt, dass Leute ernsthaft verunsichert sind, über die elektronische Post, die sie bekommen. Wieso schreibt mir plötzlich diese afrikanische Witwe wegen dem Vermögen ihres Mannes, warum werden mir erotische Bekanntschaften versprochen, hat das einen Zusammenhang mit einer erotischen Surftour letzte Woche an ganz anderer Stelle?

Um genau zu sein: Ich lese mit dieser Art E-Mail-Anfänger nicht die Nutzungsbedingungen von gmx, die wir doch aber bestätigt haben, sonst hätten wir kein Konto bekommen. Warum eigentlich nicht? Als ich im Internet angefangen habe, habe ich mir die AGBs der einzelnen Dienste noch ausgedruckt und abgeheftet. Heute denke ich immerhin darüber nach, was ich wohl bestätige. Wenn gmx (plötzlich) außergewöhnliche Nutzerbedingungen hätte, dann wurde eine wie ich das erfahren (diverse Kommunikationskanäle, ich bin in der Netzgemeinde vielseitig vernetzt) und das hätte ich mir gemerkt. Ich habe mit den Jahren eine Art gesunden Menschenverstand, was in dieser Art AGBs üblicherweise drinsteht. Aber … den hat nicht jeder, der das entsprechende Häkchen aktiviert.

Um bei dem Beispiel E-Mail zu bleiben, auch die Geschichte mit der Adressierung ist spannend. AN-Feld, CC-Feld und BCC-Feld sind der Mehrzahl der Mailbenutzer gut geläufig. Es kann aber sehr interessant sein, mit einer Seminargruppe darüber zu sprechen, wie diese Felder eingesetzt werden. Es ist nicht unbedingt eine Geste der „Transparenz“, alle Empfänger-Daten in das AN- oder CC-Feld zu setzen, es kann die Weitergabe persönlicher Informationen sein. Umgekehrt fehlt einem BCC-Empfänger häufig ein Kontext, warum er hier überhaupt angeschrieben wird. BCC-Nachrichten werden in vielen Institutionen wegen SPAM-Aufkommen pauschal gefiltert und ich hörte von einer öffentlichen Institution, in der die Benutzung des BCC-Feldes verboten ist, weil das Feld auf irgendeine Weise für Mobbing-Aktivitäten benutzt wurde. Manche Angestellte sind genervt, weil ausgerechnet ihre Vorgesetzten zu E-Mail-Diskussionen neigen, ein Klick auf „allen Antworten“ und jeder wird informiert, dass ein Kollege zu der geplanten Besprechung erst 10 Minuten später kommt. Der Literatur zu Folge sind es wohl wesentlich Führungskräfte, die die Verantwortung für eine erhebliche hausinterne E-Mail-Flut tragen, die in dieser Menge anders leichter zu bewältigen/ verarbeiten wäre.

Ich wüsste nicht, dass die „digital natives“, junge Leute, die mit dem Internet aufgewachsen sind, in solchen Angelegenheiten unbedingt höflicher vorgehen und eine gute Gratwanderung zwischen sinnvoller Transparenz und überflüssiger Informationsflut finden.

Von Angestellten öffentlicher Einrichtungen höre ich ebenso, dass sie zunehmend E-Mails von Bürgern bekommen. Das kann an der Natur des Arbeitsplatzes liegen (früher kamen eben gedruckte Anträge/ Briefe) oder an einem Bürgerbeteiligungsverfahren. Die Ämter sind teilweise irritiert, WIE die Bürger Ihnen so schreiben. Bei dem einen oder anderen E-Mail-Nutzer (vielleicht auch auf dem SmartPhone) fehlt offenbar eine ganz alte (altmodische?) Kompetenz: Wie formuliert und strukturiert man eine offizielle Nachricht.

Ich sage meinen Unterrichtsteilnehmern heute: Diese ganzen gesellschaftlichen Entwicklungen im Umgang mit EDV, die sind noch gar nicht abgeschlossen. Es gibt wenig allgemeingültige Regeln, was wie richtig ist, jedenfalls wenige Regeln die ALLEN Nutzern alltäglich bekannt wären.

Wer das Thema „Digitale Sozialisation“ gerne weiterverfolgen und sich vielleicht auch aktiv in eine entsprechende Gruppe einbringen möchte, ist herzlich eingeladen zu https://www.facebook.com/digitalesozialisation/

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